Poesie auf Bänken im Jardim do Torel


Travel & Culture / Donnerstag, Mai 22nd, 2025

Der Jardim do Torel ist ein kleiner Park in der Nähe meiner aktuellen Unterkunft, nicht weit entfernt von der Avenida da Liberdade, Lissabons Prachtstraße. Wenn ich etwas Abstand brauche, steige ich den Hügel hinauf und setze mich auf eine der Bänke.

Für mich ist das hier aus vielen Gründen ein Kraftort. Wegen des Grüns, der Bäume, der Blumen, der schönen Lage am Hügel. Wegen der Ruhe oben am Springbrunnen. Wegen der prachtvollen Patrizierhäuser in der Umgebung. Weil der Ausblick wirklich schön ist.

Der Park ist auch nicht so sehr von Touristen überlaufen wie viele andere Orte in Lissabon. Wenn es warm ist, versammeln sich hier Studenten aus aller Welt, um in den Sonnenuntergang zu chillen.

Das Besondere aber hier sind die Gedichte und Textauszüge, die auf den 18 Bänken auf der Rückenlehne eingraviert sind. Ja, ich habe sie gezählt – zehn unten im Garten mit dem Ausblick und acht oben beim Springbrunnen. Es hat etwas gedauert, bis ich sie entdeckt habe, weil sie zum Teil schon ziemlich verwittert sind. Aber seitdem haben sie mich nicht mehr losgelassen, weil ich das einfach eine liebenswerte Idee finde. Und auch eine gute Gelegenheit, mich etwas mit ihnen und ihren Autor:innen auseinanderzusetzen.

Die Gedichte handeln im Wesentlichen von Lissabon und der Liebe, oder auch der Liebe zu Lissabon. Das kann ich sehr gut nachvollziehen.

Deshalb ist dieses von Anibal Nazaré auch mein Lieblingsgedicht:

Anibal Nazaré

Nesta Lisboa que eu amo
Sinto o mar a cada esquina
Esta Lisboa tem ondas
No andar de uma varina

In diesem Lissabon, das ich liebe
Spüre ich das Meer an jeder Ecke
Dieses Lissabon hat Wellen
Im Gang einer Fischverkäuferin

Cidade tão antiga, cidade amiga,
Modesta e bela,
Varia com as marés
e tem o Tejo a seus pés a chorar de amor por ela

Eine so historische, einladende Stadt,
Bescheiden und schön,
Schwankt mit den Gezeiten
und hat den Tejo zu ihren Füßen, der vor Liebe zu ihr wein
t

Fernando Pessoa

Todas as cartas de amor são
Ridículas.
Não seriam cartas de amor se são fossem
Ridículas.

Alle Liebesbriefe sind
Lächerlich
Es wären keine Liebesbriefe, wenn sie es nicht wären
Lächerlich.

Ah, mas se ela adivinhasse,
Se pudesse ouvir o olhar,
E se um olhar lhe bastasse
P’ra saber que a estão a amar!

Ah, aber wenn sie es nur erraten könnte,
Wenn sie den Blick nur hören könnte,
Und wenn ihr ein Blick genügen würde
Um zu wissen, dass sie geliebt wird
!

Eduardo Damas

Lisboa sim…
Lisboa velha amiga
Tu é que embalas meu sonho, minha Esperança
Tu és cidade, a eterna menina
Eu sou em ti a eterna criança

Lissabon ja…
Lissabon alte Freundin
Du bist die, die meinen Traum hütet, meine Hoffnung
Du bist die Stadt, das ewige Mädchen
Ich bin in dir das ewige Kind

Lisboa sim…
Lisboa velha amiga
da Brasileira que havia no Rossio
E onde o Botto dizia p’ros amigos
Os belos versos que alguém jamais ouviu

Lissabon ja…
Lissabon alte Freundin
der Brasileira, die am Rossio lag,
Und wo Botto seinen Freunden
die schönsten Verse erzählte, die man jemals gehört hat

Brinquei contigo no largo dos Trigueiros
Primeiros passos eu dei p’la tua mão
Corri à tarde p’lo Terreiro do Paço
Li na cartilha a primeira lição

Ich spielte mit dir auf dem Largo dos Trigueiros
Ich machte meine ersten Schritte an deiner Hand
Am Nachmittag ging ich zum Terreiro do Paço
Ich las die erste Lektion im Heft

João de Deus, o A, E, I, O, U
São Nicolau que era escola antiga
Em ti cresci e só em ti estou bem
Minha Lisboa, Lisboa velha amiga

João de Deus, das A, E, I, O, U
São Nicolau war eine alte Schule
In dir bin ich aufgewachsen und nur in dir geht es mir gut
Mein Lissabon, Lissabon alte Freundin

Carlos Dias

Lisboa andou de lado em lado
Foi ver uma toirada, depois bailou, bebeu
Lisboa ouviu cantar o fado
Rompia a madrugada quando ela adormeceu

Lissabon ging von Ort zu Ort
Sah einem Stierkampf zu, tanzte, trank
Lissabon hörte den Gesang des Fado
Es dämmerte schon, als sie einschlief

Ary dos Santos

Minha laranja amarga e doce
meu poema
feito de gomos de saudade
minha pena
pesada e leve
secreta e pura
minha passagem para o breve, breve
instante da loucura.

Meine bittersüße Orange
mein Gedicht
bestehend aus Juwelen der Sehnsucht
mein Kummer
schwer und leicht
geheim und rein
meine Reise zum kurzen, kurzen
Augenblick des Wahnsinns.

A cidade tem praças de palavras abertas
como estátuas mandadas apear.
A cidade tem ruas de palavras desertas
como jardins mandados arrancar.

Die Stadt hat Plätze aus offenen Worten
wie Statuen, die abgerissen werden sollen.
Die Stadt hat Straßen aus verlassenen Worten
wie Gärten, die entwurzelt werden sollen.

Sei meu amor inventado que um dia
Teu corpo pode acender
Uma fogueira de sol e de fúria
Que nos verá nascer

Ich weiß, meine erfundene Liebe, dass eines Tages
dein Körper vielleicht
Ein Feuer entfachen wird aus Sonne und
Zorn
das uns zum Leben erwecken wird

Florbela Espanca

Eu quero amar, amar perdidamente!
Amar só por amar: Aqui… além…
Mais Este e Aquele, o Outro e toda a gente
Amar! Amar! E não amar ninguém!

Ich will lieben, wahnsinnig lieben!
Lieben um des Liebens willen, Hier…dort…
Mehr Dieses und Jenes, den Anderen und alle zusammen
Lieben! Lieben! Und niemanden lieben!

João Monge

São os loucos de Lisboa
Que nos fazem duvidar
A terra gira ao contrário
E os rios nascem no mar

Es sind die Verrückten von Lissabon
Die uns daran zweifeln lassen
Die Erde dreht sich verkehrt herum
Und die Flüsse werden im Meer geboren

Carlos Drummond de Andrade

E nosso amor, que brotou
do tempo, não tem idade,
pois só quer ama
escutou o apelo da eternidade.

Und unsere Liebe, die
der Zeit entsprungen ist, hat kein Alter,
denn nur die, die lieben,
haben den Ruf der Ewigkeit gehört.

Vinicius de Moraes

De tudo ao meu amor serei atento
Antes, e com tal zelo, e sempre, e tanto
Que mesmo em face do maior encanto
Dele se encante mais meu pensamento

Ich werde bei meiner Liebe auf alles achten
Zuerst, und mit solchem Eifer, und immer, und so viel
Dass selbst im Angesicht der größten Verzauberung
meine Gedanken von ihr immer mehr verzaubert werden.

Camões

Amor é um fogo que arde sem se ver;
É ferida que dói, e não se sente;
É um contentamento descontente;
É dor que desatina sem doer.

Liebe ist ein Feuer, das brennt, ohne sichtbar zu sein;
Sie ist eine Wunde, die schmerzt, aber nicht spürbar ist;
Sie ist eine unzufriedene Zufriedenheit;
Sie ist ein Schmerz, der wütet, ohne zu schmerzen.

Autor unbekannt (außer für sie)

Ela viu, pensou, gostou
Ele fez
Ela sorriu e chorou

Sie sah, dachte, mochte
Er tat
Sie lächelte und weinte

Wer hat da geschrieben?

Fernando Pessoa (1988-1935) und Luís de Camões (ca. 1524-1580) kann man als die bedeutendsten Schriftsteller Portugals bezeichnen. Pessoa hat viel über Lissabon geschrieben, und seine oft melancholischen Texte und Gedichte finde ich wunderbar tiefgründig und berührend.

Mit Vinicius de Moraes (1913-1980) und Carlos Drummond de Andrade (1902-1980) haben es zwei brasilianische Poeten auf die Bänke geschafft, ebenso die Portugiesin Florbela Estanca (1894-1930) als einzige Frau. 

Anibal Nazaré (1908-1975), der Dichter meiner Lieblingsbank, hat vor allem Fadotexte geschrieben.

Und die Übersetzungen: Die Texte habe ich, so gut es ging, selbst ins Deutsche übertragen, daher können sie von „offiziellen“ Versionen abweichen.